Kulturschock, Lärm, Chaos & magische Momente in Chennai
Wir befinden uns im Landeanflug auf Chennai, kurz vor touchdown. “Jetzt wird’s schmutzig” sagt Steffen auf seinem Fensterplatz neben mir. “Und das siehst du aus dem Flugzeug?” frage ich leicht zweifelnd. Er nickt “Ja, das kann ich sehen.”
Wie der Titel schon erahnen lässt, hat uns Indien mit seiner geballten Verrücktheit erstmal völlig aus den Socken gehauen. Im nachhinein war unsere Route wahrscheinlich ein bisschen naiv geplant. Eigentlich hatten wir ja nicht wirklich irgendwas geplant, sondern nur geschaut, wohin man am günstigsten von Sri Lanka aus fliegen kann. Nach Chennai!
Wer sich in Indien auskennt, wird jetzt wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Chennai, das ursprünglich Madras hieß, ist groß, sogar sehr groß. Die 2011 gezählten 4,6 Millionen Einwohner sind Schätzungen nach auf 6,5 Millionen angestiegen. In der gesamten Metropolregion leben 8,7 Millionen Menschen, damit ist Chennai der viertgrößte Ballungsraum in Indien. 29% der Einwohner von Chennai leben in Slums (Quelle). Das spürt man, hört man und das riecht man.
Wer wie ich (Sarah) vorher noch nie in Indien war, kann sich nicht vorstellen, was das heisst. Schon aus dem Zug, der uns vom Flughafen in die Nähe unserer zuvor gebuchten Unterkunft bringen sollte, konnte man sehen, was es bedeutet, in einer indischen Megacity zu sein. Am Fenster zieht eine unübersichtliche, irgendwie gleichförmige Stadt vorbei, zwischendurch immer wieder slumartige Ansammlungen von Wellblechhütten. Neben den Gleisen Berge von Müll und Unrat jeglicher Art, hauptsächlich aber Plastik. Überall wo sich Wasser in schlammigen Pfützen und Abwassergräben sammelt, stinkt es übelkeiterregend, neben den Gleisen auch oft nach menschlichen Exkrementen.
An unserem Zielbahnhof angekommen, stiegen wir in eine Rikscha und ließen uns durch das im Verkehrschaos versinkende Chennai fahren. Verkehrsregeln scheint es keine zu geben, es gilt das Recht des Stärkeren, beziehungsweise das Recht des Lauteren, jeder hupt, manchmal auch ununterbrochen. Dazu kommen Unmengen an quasi ungefilterten Abgasen. Man spürt regelrecht, wie der Dreck sich in den Atemwegen ablagert. Im Schneuztücherl wird dies auch sichtbar.
In unserem Hotel, wartete die nächste Überraschung auf uns. Es gab einen Fehler bei der Reservierung, in diesem Hotel dürfen ausschließlich Inder absteigen. Nicht besonders freundlich und auch nicht besonders schnell, wurde uns angeboten, ein ähnliches Hotel in der Nähe für uns zu buchen. Erschöpft, leicht verärgert, aber dankend stimmten wir zu und tauchten erneut in das abendliche Verkehrschaos ein, um zu dem neuen Hotel zu gelangen. An der angegebenen Adresse schauten wir uns erstmal verwundert um, es sah hier nicht nach einem Hotel aus. Das unfassbar schmutzige mehrstöckige Haus hatte eine vermüllte Eingangstreppe auf der mehrere Bettler lagen. Im Innenbereich präsentierte sich das Haus nicht besser. Über eine nicht minder verschmutzte Wendeltreppe, vorbei an Geschäften für Saries und Schmuck, kamen wir schließlich in das Stockwerk des Hotels. Das Zimmer war dann glücklicherweise einigermaßen okay, abgesehen von mangelnder Frischluftzufuhr.
Langsames vorankommen in Chennai
Unsere Pläne für Chennai stellten sich schnell als undurchführbar heraus. Da die Stadt fast ununterbrochen im oben beschriebenen Verkehrschaos versinkt, dauert jede auch noch so kurze Strecke extrem lang. Zu Fuß gehen hält man wegen des Lärms nervlich nicht aus. Außerdem gibt es kaum, oder nur sehr schlechte, Fußgängerwege, auf denen man Angst haben muss, überfahren zu werden. Innerhalb kürzester Zeit wird man von Bettlern verfolgt, die man zwar mit ein paar Münzen abschütteln kann, die aber von Händlern abgelöst werden, die dich auch gerne über mehrere hundert Meter verfolgen um dir möglichst etwas Nutzloses zu verkaufen. Das Vorhaben, öffentlichen Nahverkehrszüge zu nutzen, gaben wir nach einem Versuch wieder auf. Es ist extrem schwierig rauszufinden, wo welcher Zug fährt und danach benötigt man so oder so wieder eine Weiterfahrt mit der Rikscha. Übrigens ist die Haltestelle Chennai Beach nicht etwa der Stadtstrand von Chennai, sondern der Industrie Hafen. Soviel konnten wir auf unserem Weg zum vermeintlichen Strand herausfinden.
Genug gejammert! Jedenfalls dauert jede Strecke sehr lang, selbst wenn man sich schon in der Nähe zu befinden glaubt. Deshalb besuchten wir nur den Kapaliswarar Tempel, für mehr Sightseeing haben wir uns nicht die Zeit genommen.
Kapaliswarar Tempel
Der berühmte Kapaliswarar Tempel ist der erste Hindutempel, den ich besichtigen durfte, entsprechend verzaubert war ich. Die Atmosphäre, die in diesem Tempel herrscht, ist schwer zu beschreiben. Sobald man durch das Gopuram tritt, ein stufenförmiges mit überladenem Figurenschmuck versehenes Tor, befindet man sich im geschützten Bereich des Tempels. Im Hintergrund werden leise Mantras gesungen, Gläubige laufen langsam im Uhrzeigersinn um den rechteckigen Bereich herum, in dem sich der Hauptschrein befindet. In den überdachten Bereichen an den Seiten kann man sich ausruhen und findet Schutz vor der Sonne. Ganz anders als in unseren Kirchen zuhause, herrscht hier aber keine ernste Stille. Der Tempel ist ein fröhlicher Ort, es wird gelacht und geredet. Man hat sein Mittagessen dabei und nach einer kurzen Meditation und dem einen oder anderen Ritual, sitzt man zusammen und unterhält sich.
Kapaliswarar Tempel – großes Tor
Zugfahren in Indien – und Flucht aus Chennai
Ziemlich schnell stand für uns fest, dass wir Chennai schleunigst wieder verlassen wollen. Also beschlossen wir, uns für den Folgetag Zugtickets nach Pondicherry zu besorgen. Die staatliche indische Eisenbahn befördert jährlich über acht Milliarden Passagiere, entsprechend viel ist in den Zügen los. Tickets mit Sitzplatzreservierung sind, besonders für lange Strecken, oft schon Monate im voraus ausgebucht.
Am Ticket Reservation Counter im Egmore Bahnhof war nicht viel los, trotzdem mussten wir hier lange warten. Eine junge mit Schlagstock bewaffnete Polizistin sorgte dafür, dass sich alle anstellen und nur einer auf einmal an den Schalter geht. Wir lernen, nicht zu nett zu sein, da einige versuchen, sich zum Schalter vorzudrängeln. Um ein Ticket und eine Reservierung zu bekommen ist es notwendig, ein Formular auszufüllen. Es lebe die indische Bürokratie. Nur wenn dieses Formular vollständig, (unter anderem Zugnummer, Zeiten, Passnummer usw.) ausgefüllt ist, bekommt man ein Ticket ausgestellt. Blöd, wenn man all diese Informationen noch nicht hat. Als wir nach längerem Warten endlich an die Reihe kamen, schaute uns die ältere Dame durch das Glas hindurch an und erklärte uns in schwer verständlichem Englisch, wie zwei unterbelichteten Kindern, dass wir das Formular vollständig auszufüllen hätten. Nach erschöpfenden, von Verständnisproblemen auf beiden Seiten geprägten, Diskussionen, hielten wir schließlich unser Ticket in der Hand.
Glücklich dem Moloch Chennai zu entfliehen, stiegen wir am nächsten Tag in den Zug Richtung Pondicherry.
Hatte einer von euch ähnlich heftige Erlebnisse in Indien? Dann schreibt es gerne in die Kommentare.
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